Wer an Pflanzen und Stoffwechsel denkt, dem fällt zunächst meist die Photosynthese ein. Doch in Pflanzen finden auch Atmungsprozesse statt, die in vieler Hinsicht der Atmung von Tieren gleichen - die so genannte Zellatmung. Aus Glukose und Sauerstoff entstehen dabei Kohlenstoffdioxid und Wasser.
Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Prof. Hans-Peter Braun und Dr. Jennifer Senkler vom Institut für Pflanzengenetik der Leibniz Universität Hannover hat sich in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Hochschule Hannover jetzt mit der Atmung der Mistelpflanze befasst und dabei eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Die Mistel atmet grundlegend anders als andere Pflanzen und Tiere. Ihr fehlt ein Enzymkomplex, der bislang als absolut bedeutend und unentbehrlich für die Zellatmung vielzelliger Lebewesen eingestuft wurde: der so genannte NADH-Dehydrogenase-Komplex (auch als "Komplex I" der Atmungskette bezeichnet). "Man dachte bislang, dass höheres Leben ohne diesen Enzymkomplex nicht möglich ist", erläutert Hans-Peter Braun. Die Forschungsergebnisse, die jetzt in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift "Current Biology" publiziert wurden, erregen in der Fachwelt große Aufmerksamkeit.
Das Fehlen des "Komplexes I" hat eine weitreichende Umgestaltung der Atmungskette in der Mistel zur Folge. Eine Untersuchung dieser Anpassungen ist nicht zuletzt deshalb so bedeutsam, weil sie auch zu einem besseren Verständnis von Fehlfunktionen der Atmungskette bei Mensch und Tier beitragen könnte. "Beim Menschen haben schon winzig kleine Beeinträchtigungen des Komplexes I drastische Auswirkungen", sagt Braun. Schwere, bislang unheilbare Erkrankungen wie etwa Parkinson oder das Leigh-Syndrom haben mit Störungen des "Komplexes I" zu tun. Insgesamt sind an der Atmungskette vier Enzymkomplexe beteiligt. Die Zellatmung spielt sich im Cytoplasma und in den Mitochondrien der Zelle ab und ermöglicht die Bildung der energiereichen Verbindung Adenosintriphosphat (ATP).
"Die Mistel ist ein skurriler Organismus", sagt Pflanzenbiochemiker Braun. Vielen ist sie bekannt, weil sie als Halbparasit in großen kugelförmigen Gebilden auf Bäumen oder Sträuchern wächst. Die Pflanze genießt seit dem Altertum medizinische und symbolische Bedeutung, ist etwa in den Asterix-Comics Bestandteil des Miraculix''schen Zaubertranks und wird auch heutzutage als Heilpflanze gegen diverse Beschwerden eingesetzt. Die Mistel ist in Mitteleuropa weit verbreitet, wächst auf fast allen einheimischen Bäumen und entzieht diesen Wasser und Mineralien. Als Halbparasit wird sie bezeichnet, weil sie trotz ihres "Schmarotzertums" Photosynthese durchführt und sich dadurch viele wichtige Nährstoffe selber herstellen kann.
"An Parasiten und Halbparasiten kann man viel lernen, da sie nicht alle Lebensprozesse selbst ausführen müssen", erläutert Braun. "Wenn bestimmte Strukturen fehlen, wird klarer, wofür diese gut sind und wie sie genau funktionieren." Warum es der Mistel gelingt, ihren Atmungsprozess ohne die im Energiehaushalt als zentral geltende NADH-Dehydrogenase zu bestreiten, muss allerdings noch weiter geklärt werden. In Folgeprojekten wollen die Wissenschaftler die Pflanze genauer biochemisch untersuchen, um diesen Mechanismen auf den Grund zu gehen. Neben anderen Vermutungen sei denkbar, dass die fehlenden energiereichen Verbindungen den Wirtspflanzen entzogen werden.
Den vollständigen Artikel in englischer Sprache finden Sie hier: doi.org/10.1016/j.cub.2018.03.050
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