Demnächst wolle er ein Schild mit der Aufschrift "Auskunftsbüro für China" ["bureau d' adresse pour la Chine"] an seine Tür hängen, schrieb Leibniz munter an Kurfürstin Sophie Charlotte 1697 nach Berlin. Seit er ein halbes Jahr zuvor seine Schrift Novissima Sinica [Das Neueste über China] veröffentlicht hatte, konnte er sich vor Anfragen über das ferne Land und seine Menschen nicht mehr retten. Mehrseitige Fragelisten aus allen Teilen der Welt erreichten ihn nun in Hannovers Schmiedestrasse, zwecks Weiterleitung nach China.
Marco Polo hatte an der Wende zum 14. Jahrhundert mit seinen teils fantastischen Reiseberichten über das unbekannte und riesenhafte Reich der Mitte eine große Welle anhaltender China-Faszination in Europa ausgelöst. Im 17. und 18. Jahrhundert war China zur Projektionsfläche europäischer Wünsche geworden: Sagenhafter Reichtum, hoch entwickelte Kunst und Kultur, Wissenschaft und Medizin - ein 'Europa des Ostens'. Hierzulande zierten nun Motive in 'China-Manier' - oder was man sich eben in Europa darunter vorstellte - Tapisserien, Lackmöbel und später auch Porzellan. In den höfischen Gärten der norddeutschen Tiefebene flanierte man an chinesischen Teehäusern und Pagoden vorbei.
Auf den Spuren der Welfen lernte Leibniz Pater Claudio Filippo Grimaldi, den Leiter der jesuitischen Chinamission, 1689 in Rom kennen. Er war erst kürzlich aus Peking zurückgekehrt. Leibniz war begierig, so viel wie möglich über China zu erfahren und stellte viele Fragen: "Hat die Wurzel Ginseng so große Kräfte, wie gemeinhin gerühmt wird? Wie stellen die Chinesen grünes Feuerwerk her? Wie sammeln sie Seidenkokons? Gibt es Holz so hart wie Eisen und geradegewachsen, geeignet zur Herstellung von Röhren? Kennen die Chinesen den Satz des Pythagoras? Was weiß man über technische Maschinen und die Papierherstellung?" usw. Aus der Begegnung mit Pater Grimaldi und seinen Ordensbrüdern entwickelte sich ein intensiver Wissensaustausch und eine umfangreiche Korrespondenz. Auch Ludwig der XIV. hatte bereits einige jesuitische Missionare nach Peking entsandt. Neben der Verbreitung des christlichen Glaubens versprach man sich auch gute Handelsbeziehungen. Kaisers Kangxi [康熙] (1654-1722) duldete die gelehrten Padres an seinem Hof, war aufgeschlossen gegenüber westlichem Wissen und ließ sich seinerseits in Astronomie, Anatomie, Mathematik und Kriegsführung unterrichten. Im Gegenzug wirbelte manche der Entdeckung vor Ort die heimatliche europäische Welt gründlich durcheinander:
Z. B. die Jahrtausendealte chinesische Zivilisation und Kultur. Nach der Bibel stammte ja die gesamte Menschheit von den drei Söhnen Noahs, Ham, Sem und Jafet ab, die nach der Sintflut die Erde neu besiedelten, dies laut biblischer Zeitrechnung ca. 2348 v. Chr. Allerdings trat - wie die Padres in den alten chinesischen Schriften lasen - der legendäre Kaiser Fuxi [伏羲] bereits im Jahr 2952 v. Chr. seine Regierungszeit an. Gefolgt von den drei 'Ur-Dynastien' Xia, Shang und Zhou. Was einige Erklärungsnot und Kopfschmerzen unter den Missionaren auslöste, die sich nun die Frage stellten, ob die ältesten chinesischen Fürsten wohl direkte Nachkommen Noahs seien?
Leibniz ging es im gegenseitigen Kulturaustausch nicht um einen Streit über das "Alter der Welt", sondern um "die Erkenntnis dieser oder anderer großer Dinge, die uns noch verborgen sind [...] und der Wissenschaft eine neue Welt öffnen".
Brennend interessierte er sich für die chinesischen Schriftzeichen. War aus den 100.000 Zeichen eine bedeutungstragende Urschrift zu rekonstruieren? Suchte er doch selbst schon lange nach einer universalen Zeichenschrift ["characteristica universalis"], die international verstanden und mit deren Zeichenkombinatorik man "so rechnen und Beweise auffinden könne, wie in der Algebra und der Arithmetik." Für seine vergleichenden sprachwissenschaftlichen Forschungen zum Ursprung der Sprachen ließ sich Leibniz viele schriftliche Proben von Vaterunserübersetzungen aus allen Teilen Asiens schicken. Bei Zar Peter dem Großen setzte er sich für einen sicheren Landweg (ca. 8.000 km) zwischen Moskau und Peking ein.
Einen herben Dämpfer erhielt Leibniz' Euphorie mit Hilfe seiner Entdeckung des Binärcodes - der Darstellung aller Zahlen aus 0 und 1 - den chinesischen Kaiser, welcher "ein Liebhaber und Kenner der Wissenschaft der Zahlen" war, von der christlichen Schöpfungslehre überzeugen zu können. Denn, so Leibniz, "nichts sei glaubhafter als die Aussage, daß Gott alles aus dem Nichts geschaffen hat, ohne sich irgendeiner ursprünglichen Materie zu bedienen, und daß es nur diese beiden Urprinzipien gibt, Gott [=1] und das Nichts [=0]." Die Antwort aus China fiel nüchtern aus: Man müsse wegen des nachlassenden Interesses des Kaisers noch eine günstige Gelegenheit abwarten, um ihm "von Ihrer schönen Zahlenentdeckung und dem Beweis für den Glaubenssatz der Schöpfung, den Sie daraus ziehen, zu berichten".
Wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen sah Leibniz aber in der Entdeckung Chinas als Hochkultur mehr als nur eine Verbreitung des Evangeliums. Die Mission, so seine Überzeugung, sollte durch wissenschaftliche Forschung zum Ruhm Gottes oder durch tätige Nächstenliebe zum Heil der Menschen wirken. Denn es liege im Interesse des Allgemeinwohls, dass "zwischen so weit von einander, an den beiden äußeren Enden des großen [ eurasischen] Kontinents lebenden Völkern ein Austausch von Ideen und Kenntnissen eingerichtet wird, ein Austausch wie er allen Arten von Handel, wie wir wissen, bei weitem vorzuziehen ist." Anders als die meisten seiner Zeitgenossen sah Leibniz Kulturtransfer nicht als einseitig an. Auch China sollte "Kultur-Missionare" nach Europa entsenden, damit Europa vom chinesischen Geist lernen könne. Heute studieren und lehren weit mehr als 1300 Chinesinnen und Chinesen an der Leibniz Universität. Mit Leibniz: "Tauschen wir unsere Verdienste aus und entzünden wir Licht am Licht!"