Der Angeklagte zeigt sich wenig kooperativ. Seinen Namen? Den will das Männchen nicht nennen. Das stößt auf wenig Verständnis beim Vorsitzenden des Märchengerichts, da die Nennung der Personalien zu den wenigen Pflichten des Beschuldigten gehört, der ansonsten in der Sache schweigen darf. Und so heißt es im Protokoll nur “ein Männchen, nähere Identität nicht bekannt”. Beim Märchen Moot Court an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover ist alles ein bisschen anders als in der Realität. Dass der Angeklagte seinen Namen nicht nennt, ist in dem Fall Programm. Hinter dem namenlosen Verdächtigen steckt niemand anderes als Rumpelstilzchen höchstselbst, angeklagt wegen Entziehung Minderjähriger.
Ein Moot Court ist zunächst eine simulierte Gerichtsverhandlung, bei der Studierende lernen, wie sie später im Berufsleben vor Gericht agieren. Das Märchenhafte kommt hinein, indem das jeweilige Verfahren einen Fall aus einem Märchen zum Gegenstand hat; im Wintersemester 24/25 war das Rumpelstilzchen. Ein Semester lang haben sich die Studierenden in zwei Teams – Staatsanwaltschaft und Verteidigung – unter Anleitung von Prof. Dr. Sascha Ziemann, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht mit interdisziplinären Bezügen, mit dem fiktiven Sachverhalt befasst. Dafür haben sie den Sachverhalt ermittelt, Zeugenaussagen hinterfragt und sich auf die anstehende Verhandlung vorbereitet. Am Ende standen sie dann erstmals vor dem Märchengericht, standesgemäß in Robe, und hielten auch Plädoyers.
“Der Märchensachverhalt wird immer etwas umgeschrieben, damit jede der Parteien eine Chance hat”, erklärt Professor Ziemann. Das was so humorvoll daherkommt, zieht einen großen Lerneffekt nach sich: Der Märchen Moot Court soll nicht zuletzt die erforderlichen Schlüsselqualifikationen für die Zulassung zur Pflichtfachprüfung vermitteln. Dabei kann es sich beispielsweise um Kompetenzen wie Verhandlungsmanagement, Mediation, Vernehmungslehre und Kommunikationsfähigkeit handeln. Gleichzeitig werden die Studierenden durch die Anwendung prozessualen und materiellen Strafrechts an Arbeitsmethoden der rechtsberatenden Praxis herangeführt. Juristinnen und Juristen des Amtsgerichts Hannover haben die Studierenden bei der Vorbereitung des Prozesses vor dem Märchengericht zudem beratend unterstützt.
Und das Urteil? Das fällt in dem Fall nicht der Vorsitzende, sondern eine Jury, bestehend aus dem Publikum, das nach und nach mit dem veränderten Sachverhalt vertraut wird: Das Männchen hat das Leben des kleinen Prinzen gerettet, indem es ihn davor bewahrt hat, in einen reißenden Fluss zu stürzen. Mit heißer Schokolade und liebevoller Zuwendung hat es das Kind im Anschluss gut betreut. Das können auch Fuchs und Hase bezeugen, die sich bei den Grimms nur gute Nacht sagen, hier aber als Zeugen vorgeladen sind. Beide wissen zu berichten, dass das Männchen sich gut um das Kind gekümmert hat. Als günstig für die Verteidigung kristallisiert sich zudem im Laufe des Prozesses heraus, dass die Königin – plakativ dargestellt als Feenstaub-abhängig, Diät-versessen und Karriere-süchtig – als Mutter versagt hat. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft stellt sich der Fall freilich anders dar. Sie richtet den Blick darauf, dass das Männchen wenig Interesse gezeigt hat, den Prinzen zur sorgeberechtigten Mutter zurückzuführen. Am Ende ist für die Jury dann aber alles klar: Freispruch für Rumpelstilzchen.